Porträt

Im Schatten der Psychose

Tuula Rouhiainen heißt sie. Sie kommt aus Karelien in Ostfinnland, nahe der russischen Grenze wurde sie groß. Ihr spezieller Akzent macht sie unverwechselbar, wenn sie sich in großer Runde, so wie bei Kongressen wie „Die subjektive Seite der Schizophrenie“, mutig zu Wort meldet und für die Sicht der Psychiatrie-Erfahrenen eintritt. Soviel Mut bei einer Frau, die vor Angst fast zerbrochen wäre, die lang an einer schweren schizoaffektiven Psychose litt, die sie in deutsche und finnische Psychiatrien führte. Heute geht es ihr gut. Ohne Medikamente. Mit Krisen, natürlich, die sie auf ihre Art zu bewältigen gelernt hat, ohne in Psychosen abzurutschen. „Man kann zufrieden und glücklich leben“ ist ihr Credo – Hoffnung, die sie auch als Begleiterin im Peer-Projekt von „psychenet – Hamburger Netz psychische Gesundheit“ anderen Betroffenen vermittelt. Doch wie kam sie soweit? Wie hat sie das geschafft? Bericht aus einem ungewöhnlichen, steinigen Leben.
Dr. Bern CarriereHAMBURG. Die vermeintliche äußerliche Anonymität des großen Mietshauses in Bergedorf täuscht. 70 ziemlich voll gestellte Quadratmeter und eine große Terrasse mit vielen Pflanzen. Das ist viel im Vergleich zu früher, und die Terrasse ist besonders wichtig für Tuula Rouhiainen. Die Frau aus Finnland, dem weiten Land der tausend Seen und Wälder, braucht das Grün. Im Moment telefoniert sie gerade noch. Am anderen Ende der Leitung ist eine Freundin, eine Yogalehrerin. Gemeinsam planen die beiden Frauen gerade ein Yogaangebot für Menschen mit psychischen Erkrankungen. „Mir helfen Sachen wie Yoga, Akupunktur oder Musiktherapie sehr. Da muss jeder seinen eigenen Weg finden“, sagt Tuula. Und sie muss es wissen.
Absehbar war nichts davon, was ihr Leben so einschneidend bestimmen sollte. Die Krankheit kam spät. Aber mitbestimmende Faktoren kamen früh ins Spiel. Eine Patchwork-Kindheit in aller Kürze: 1952 geboren, mit drei Jahren Trennung der Eltern wegen Alkoholproblemen des Vaters, bis zum Alter von acht Jahren aufgewachsen in zwei verschiedenen Großfamilien. Zunächst bei der des Vaters. Später zieht sie zur Familie der Mutter, eine bäuerliche Gemeinschaft mit vielen Kindern. Probleme durch Alkohol-
konsum oder andere Behinderungen waren in Finnland nie ein Tabuthema. „Das wurde in den Familien mitgetragen“, sagt Tuula Rouhiainen. „Das wichtigste ist der Beruf, um nicht von Männern abhängig zu sein“, gibt ihr die Mutter mit auf den Weg. Tuula ist die älteste und passt auf ihre Geschwister auf. Sie will Erzieherin werden. Doch es gibt keinen Praktikumsplatz, und als sie in der Zeitung das Aupair-Gesuch einer finnischen Familie aus Hamburg liest, stellt sie die entscheidende Weiche: „Ich wollte Deutsch lernen und die große Freiheit für mich entdecken.“
So kommt sie nach Rahlstedt. Genießt die Selbstständigkeit. Verliebt sich („ich habe wohl einen Grund gesucht, um hier bleiben zu können“). Sie wird Erzieherin, arbeitet in den Siebzigern in einem Kindergarten, wo – damals fortschrittlich – behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam betreut werden. Sie wohnt in einer 8er WG, wieder eine Großfamilie. Und sie geht weiter. Beginnt mit 29 Jahren ein Sozialpädagogikstudium. „Das war eine tolle Zeit, die schönsten Jahre“, sagt sie. Jahre voller Pläne, geprägt von Neugier und Aufbruchstimmung. Sie verliebt sich wieder, zieht mit ihrem späteren Ehemann zusammen, wird schwanger. Da ist sie im Anerkennungsjahr und arbeitet mit Sehbehinderten, erfährt von Schicksalen, etwa von Kindern, die im Brutkasten blind wurden. „Ich habe alle meine Ängste während der Schwangerschaft unterdrückt“, erklärt sie ihre schwierige Schwangerschaft. Vorzeitige Wehen legen sich erst, als sie die letzte Prüfung absagt, doch die gewünschte ambulante Entbindung kann nicht stattfinden, der Blutdruck ist hoch, und der vertrauten Hebamme wird von der Klinik Hausverbot erteilt. Tuula Rouhiainen – voller Angst – kommt in ein Sechsbettzimmer mit lauter Frauen mit Geburtskomplikationen. Pflegekräfte und Ärzte geben unterschiedliche Botschaften zur Schädlichkeit von Medikamenten, die sie nehmen muss. „Ich bin da verrückt geworden“, sagt sie.
Sie wird in die geschlossene Psychiatrie in Eppendorf gebracht. Keiner spricht mit ihr. „Ich dachte, die bringen mich um, vertuschen, dass Fehler gemacht wurden.“ Die Hebamme kommt mit einer Milchpumpe zu ihr. Es ist die einzige Person, die sie erreicht. „Das war wie ein Vorhang, der sich öffnete zur Realität.“ Mit Medikamenten versorgt, wird sie nach Hause entlassen. Sie ist über sich und ihre Krise tief erschrocken. Doch die Geschichte bleibt unbearbeitet.
Die Geburt des zweiten Kindes in einer Arztpraxis geht mit einer Hebamme problemlos über die Bühne, drei Stunden später ist sie zuhause. 1988 setzt sie mit ihrem Mann ihren großen Wunsch um, nach Finnland zurückzukehren. „Nach 20 Jahren ein Kulturschock“. Sie versorgt die Familie, arbeitet in einer Erziehungsberatungsstelle, betreut ein Ehepaar, Mutter Finnin, Vater Engländer, bei dem die Frau Angst hat, dass ihr Mann das Kind entführt. Tuula erinnert die Geschichte an die Trennung der eigenen Eltern. Sie fühlt sich zunehmend überfordert, kriegt Schlafstörungen, wird unruhig. In der Zeitung liest sie eine Geschichte über eine Familie, die von der Stadt aufs Land zog. „Warum schreiben die über mich?“ fragt sie sich. Und nun beginnt ihre richtige Psychiatriegeschichte.
Drei Monate, im finnischen Wald in einer Frauenabteilung. Beruhigende Medikamente, viel Bewegung, „jeden Tag 10 bis 15 Kilometer Touren zu Fuß“, Sauna, klar, in Finnland, weben lernt sie hier auch. Zurück zu Hause wartet ein Mann, der mit ihrer plötzlichen Schwäche nicht umgehen kann, der die Alleinverdienerin drängt, wieder zu arbeiten.
Ein Jahr später, 1989: Rückfall. Die Freunde bleiben. „Das ist in Finnland anders, die Beziehungen haben sich eher intensiviert.“
Doch der Ehemann flüchtet nach Deutschland. Mit den Kindern. Tuula, gerade aus der Psychiatrie entlassen, löst in kürzester Zeit den Haushalt auf und fliegt hinterher. Wohnt bei Freunden und dann in einer 16-Quadratmeterwohnung. Und stößt auf Mauern. Die Familie des Mannes lehnt sie ab, verweigert ihr den Kontakt zu den eigenen Kindern. „Das war schlimmer als die Psychose“, sagt sie. Das erste halbe Jahr gilt sie als suizidgefährdet. Eine Ärztin verpflichtet sie, jeden Freitag zu kommen. Das hält sie.
Was ihr immer wieder auf die Beine hilft, sind „Freunde, die mich angenommen haben wie ich bin“. Es folgen Scheidung, extrem starre Regelungen für den Umgang mit den Kindern, denen zuliebe sie nach Bergedorf zieht. Vom Jugendamt fühlt sie sich nicht ernst genommen, von dort erhält sie keine Unterstützung. Nach einem Jahr ohne Psychose folgen vier Psychiatrie- aufenthalte, in Ochsenzoll und Bergedorf. Immer geht sie freiwillig. „Schreckliche Jahre“ seien das gewesen, in denen die Kinder heimlich zur Mutter kamen. Doch zur Seite stehen ihr „sehr gute Therapeuten“.
Eine Psychiaterin, die auch Psychotherapeutin ist, nimmt sie in eine tiefenpsychologische Therapie auf, in der Tuula Rouhiainen ihre Geschichte und die ihrer Krankheit endlich aufarbeiten kann. Sie kann ihrem Mann verzeihen und sucht sich, mittlerweile verrentet, einen Halbtagsjob im Erziehungsbereich, macht nebenbei ein Praktikum. Hofft, in ihren Beruf zurückkehren zu können. Doch als sie merkt, dass sie mehr Medikamente nehmen muss, wenn sie mehr als 15 Stunden arbeitet, nimmt sie endgültig Abschied von einem regulären Berufsleben.
Und dann gibt es noch einen neuen Abschnitt in ihrem Psychoseleben. Nachdem sie acht Jahre Neuroleptika genommen hat und unter Nebenwirkungen, v.a. Depressionen, leidet, entschließt sie sich, sich von den Psychopharmaka zu lösen. Wieder findet sie einen Arzt, der sich darauf einlässt. „Sie kennen sich selbst am besten, ich unterstützte Sie“, sagt er. Über fünf Jahre lang, Schritt für Schritt, dosiert sie die Substanz herunter. Parallel schreibt sie viel, engagiert sich viel ehrenamtlich und findet einen großen Anker in verschiedenen Selbsthilfegruppen: „Die Selbsthilfe hat mich gerettet“, sagt sie. Vor allem Dorothea Buck wird für sie zum Vorbild. „Sie hat mir den Weg gezeigt, dass ich den Sinn meiner Psychosen suchen muss.“
Ein Klinikpsychiater lässt sich darauf ein, mit ihr gemeinsam die Klinikberichte, auch den aus Finnland, zu lesen. Dadurch habe sich ein ganz anderes Vertrauensverhältnis ergeben. Ihr hilft es, ihre Krankheit „einigermaßen einzuordnen“. „Das war mühsame Arbeit“, sagt sie, aber seither habe sie keine Psychose mehr gehabt.
Seit 18 Jahren lebt sie nun psychosefrei. Und stellt fest: „Seitdem ich keine Psychose mehr habe, reagiere ich psychosomatisch.“ Früher sei sie nie erkältet gewesen. „Jetzt habe ich öfter eine Erkältung, Allergien oder Rückenbeschwerden.“ Auch sonst geht es ohne Psychosen und Medikamente nicht immer glatt. Manchmal nimmt sie eine halbe Schlaftablette, wenn sie sehr unruhig oder aufgewühlt ist. Oder Baldrian. Sie macht Tai-Chi, hat gelernt sich abzugrenzen, ihre Grenzen überhaupt zu sehen. „Und ich übernehme Verantwortung“, sagt sie. „Ich habe mir irgendwann gesagt, ich kann ein Leben lang auf meine Eltern und andere schimpfen. Aber ich kann auch sagen, ich entscheide über mein Leben, es ist mein Leben.“ Es gibt immer wieder Situationen, die sie überfordern. Dann zieht sie sich zurück. Liegt auch mal drei Tage nur auf dem Sofa und hört Musik oder macht Entspannungsübungen. Oder sie sucht die Natur. In Hamburg, oder in Skandinavien, im Wald. Da kann sie sich stabilisieren.
Meist mit ihrem Partner, den sie vor elf Jahren traf. „Das war eine schicksalhafte Begegnung“, meint sie. Sie leben in zwei Wohnungen, durch ihre insgesamt fünf erwachsenen Kinder lebt sie wieder eine Großfamilienkonstellation. Zu ihren eigenen Kindern hat sie ein „relativ normales Verhältnis“, Tochter und Sohn lebten zwischenzeitlich bei ihr. Sinn findet sie weiterhin in ehrenamtlichen Aktivitäten für den Landesverband Psychiatrie-Erfahrene e.V. und „Irre menschlich e.V.“
Als kleines Kind lief sie vor Schatten weg. Du kannst nicht weglaufen vor dem Schatten, sagten ihr die Leute. Später habe sie Sachen nicht ausgelebt, darauf gepolt, immer Stärke zu zeigen statt zu zeigen, wie klein und hilflos sie sich fühlte. Immer wieder lief sie dem Schatten davon. „Bis mich die Psychose dazu zwang, anzuhalten“, sagt Tuula Rouhiainen. Ihr Schlüssel zum Ausweg aus der Psychose? „Ich hatte die Chance, meine Psychose zu verstehen“, sagt sie.

— Anke Hinrichs, Originalveröffentlichung Juli 2012