Gesellschaft

Der Algorithmus der Gefühle

Psychiatrie 4.0.: Von Avatar bis Datenbrille
Datenbrillen zur Gefühlserkennung, Avatare, die Therapeuten spielen und Software, die einem das Wort im Munde umdrehen kann – die „schöne neue Welt“ ist da – und beunruhigt.

Algorithmus

Foto: Beispiel für einen Algorithmus (Prinzipbild des Rete-Algorithmus für Expertensystem (aus wikipedia))

HAMBURG. Am Anfang war der Lügendetektor. Er zeichnete Blutdruck, Puls, Atmung und die elektrische Leitfähigkeit der Haut während einer Befragung auf. Gemessen wurde die Aktiviertheit einer Person – und nicht die Wahrheit. Heute, Zehntausende von Fitness-und Mental-Apps später, wird von einer Revolution namens „4.0“ gesprochen – was irgendwas zwischen Roboter und Maschinen mit künstlicher Intelligenz, mit Digitalisierung und totaler Vernetzung beinhaltet – und sukzessive unsere Welt und unser Sein darin verändert. Psychiatrie und Psychotherapie sind in besonderem Maß mitbetroffen. Werden auch Therapeuten in Zukunft von vermenschlichten Maschinen ersetzt – oder ergänzt?
Psychiatrie 4.0 – Israel zeigt, wie sie aussehen könnte. Krankheiten erkennen, bevor sie überhaupt richtig auftreten, lautet das Ziel. „Lifegraph“ heißt eine an der Universität in Tel Aviv entwickelte App, die dazu dient, Verhaltensmuster zu beobachten: Wie oft und wie lange hat der Patient telefoniert, weist er Gespräche ab? Wie viel spricht er und in welcher Lautstärke? Wie viele SMS und E-Mails schreibt er. Wie oft verlässt er das Haus? Macht er das Licht im Zimmer mitten in der Nacht an? Innerhalb weniger Wochen ermittele das System die „individuelle Verhaltensnorm jedes einzelnen Patienten“, berichtete die Welt („Mobiler Psychiater“, 1.9.2016). Wenn diese „Basislinie“ etabliert ist, gebe die App Bescheid, wenn etwas beginnt, schiefzulaufen. Etwa wenn Depressive weniger Anrufe beantworten, selbst weniger Kontakte initiieren, das Haus seltener verlassen.
Auch an der Uniklinik Dresden wird mit Smartphones gearbeitet. Eine App für Patienten mit Bipolaren Störungen, die derzeit getestet wird, erinnert an Medikamente, wertet Bewegungsprofile aus – und ruft zur Not den Arzt. Für jeden der Patienten wird ein persönliches Profil ermittelt. Wer davon abweicht, kriegt es mit seinem Arzt zu tun. In einer manischen Phase verschicke ein Erkrankter auch mal 500 SMS am Tag, erklärte Michael Bauer, Direktor der Dresdner Unipsychiatrie gegenüber welt24 die Erkenntnisdimension.
Das Zauberwort der 4.0-Welt lautet Algorithmus. Ein Computer wird mit Unmengen von Daten gefüttert, aus denen er ein System und eine Handlungvorschrift entwickelt. Damit sollen dann auch künstliche Personen – Avatare – menschliche Intelligenz und gar Gefühle simulieren können. Gefühle erkennen und vermessen, über die Einspeisung unzähliger Mimiken echter Menschen in feinster Abstufung – Affective Computing nennt sich dieser Forschungsbereich. Ulrich Schnabel hat ihn für die Zeit untersucht – arte sendete dazu den Filmbeitrag („Die Vermessung der Gefühle“, siehe Trailer auf YouTube). Darin ist zu sehen, wie „Elli“, die virtuelle Therapeutin und Avatarin, ein therapeutisches Gespräch mit einem an einer Traumastörung leidenden Ex-Soldaten führt. Dahinter stehen unzählige Daten zu Stimmlage, Verhalten, Ausdruck, Betonungen etc., auf die „Elli“ gelernt hat, passend zu reagieren. Kalt und klinisch habe sich das angefühlt, so der Ex-Soldat, aber das Erzählen sei einfacher gewesen. Er habe mehr erzählt. „Du fühlst Dich gezwungen zu antworten“. Keine Chance für Ausreden, oder zögern, das echte – empathische – Therapeuten zulassen.
Gesichtserkennungs-Apps sollen den Gefühlszustand des Handynutzers analysieren, wenn er auf sein Handy guckt. Wird künftig das Telefon Tipps geben, wann und mit welchem Therapeuten man reden soll, sorry, welche Therapie-App herunterzuladen ist? Datenbrillen mit Gesichtserkennungssoftware werden in Studien mit Autisten eingesetzt, die Probleme haben, Gefühle zu erkennen und zu spiegeln. Immerhin: Besser funktioniert Tanz, hat Isabel Dziobek von der Humboldt Universität Berlin festgestellt. Tanz aktiviere intuitive Fähigkeiten, erklärt sie in dem arte-Beitrag. Rechner messen und berechnen, doch ein Ersatz für Austausch, das, „was uns zu menschlichen Wesen macht“, so Schnabel, seien sie nicht. Es fehle das „mitschwingen“ mit dem Gegenüber, sodass dessen Gefühl auch in uns eines erzeugt, weil wir die Emotion kennen.
Und doch ist die Dimension des Ganzen enorm und unterschätzt, meint der Soziologe Professor Stefan Selk, Mitglied des Deutschen Ethikrats. „Die digitale Selbstvermessung verändert den Menschen“, warnte er in einem Interview mit der Ärztezeitung vor dem Trend zu einem assistierten Leben. Denn wo Daten erfasst werden, gibt es auch die Gefahr der Überwachung und Kontrolle. Nicht nur in ohnedies autoritären Staaten diene Selftracking zur potenziell totalen Kontrolle. In den USA gebe es eine private Uni, die von ihren Studenten fordert, eine bestimmte Menge Sport zu machen. Das werde über Fitnessarmbänder kontrolliert, die die Daten an die Uni senden. Wer nicht mitmacht und keine Daten liefert, dürfe nicht studieren.
Schließlich könnten Leistungsversprechen auch in destruktive soziale Prozesse umschlagen. So, wenn Eltern ihren Babys Datensocken anziehen können und Puls oder Atemfrequenz auf ihr Smartphone senden lassen. Der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen habe darauf hingewiesen, dass solche Eltern immer ängstlicher würden. Perfektion sei nicht der Sinn des Lebens, so der Soziologe.
Dass die Forschung immer noch neue, bislang unvorstellbare Entwicklungen parat hat, zeigt eine Meldung über eine Neuentwicklung von Adobe: Eine Software kann Sprachaufnahmen so bearbeiten, dass ein Mensch etwas völlig anderes zu sagen scheint als im Original – da werden keine Lügen mehr enttarnt, sondern mit Finesse produziert.

— Anke Hinrichs, Originalveröffentlichung November 2016