Mit viel Gefühl
„Mitgefühl“: Dänischer Dokumentarfilm über einen radikal-humanistischen Demenz-Pflegeansatz
Pflegerin Lotte hält Grethe tröstend im Arm - Fotos (2): Per Fredrik Skioeld
Kuchen und Sekt statt Medikamente, vor allem ganz viel Gefühl und Aufmerksamkeit, ja Menschenliebe, aber auch Ästhetik – das ist der Kern eines außergewöhnlichen Pflegeansatzes für schwer Demenzkranke in der kleinen dänischen „Pflegeoase“ Dagmarsminde. Die Regisseurin Louise Detlefsen ist eineinhalb Jahre in diese eigene Welt eingetaucht und hat einen einfühlsamen Dokumentarfilm gedreht, der – passend zur Demenzwoche und zum Welt-Alzheimertag (21.9.) – am 23. September in die Kinos kommen soll. Ihr ist es gelungen, aus diesem schweren Thema einen lebensbejahenden Film zu machen, der den Zuschauer nicht bedrückt aus dem Kino entlässt, sondern eher positiv gestimmt ob dessen, was geht. Oder gehen könnte. Der Wermutstropfen: In Deutschland wäre dies so wohl nicht finanzierbar.
May Bjerre Eiby heißt die
Heldin dieses Dokumentarfilms.
Die ausgebildete
Krankenschwester mit Master in Krankenpflege
kündigte ihren Job, um ihr eigenes
Pflegeheim zu gründen. Sie hat
auch Bücher über ihre Pflegemethode
geschrieben und kritisiert die derzeitige
Altenpflege: viele Pflegeheime hätten
sich zu „Pflegefabriken“ entwickelt.
Dagmarsminde eröffnete sie 2016,
nachdem sie mehrere Jahre damit verbracht
hatte, die Finanzierung und die
Genehmigungen für den Umbau einer
alten Werkstatt in ein kleines Pflegeheim
zu sichern.
Ihre Pflegemethode besteht darin, die
Bewohner von ihren Medikamenten zu
entwöhnen. Stattdessen besteht die Behandlung
aus Umarmungen, Augenkontakt,
Berührungen, Gesellschaft und
ab und zu einem kleinen Glas Portwein.
„Unsere Bewohner erhalten keine Beruhigungsmittel
und Antipsychotika
und wir stellen fest, dass sie sich zusätzlich
deutlich besser fühlen. Darüber hinaus
versuchen wir auch, Antidepressiva
und Schmerzmittel auslaufen zu
lassen, aber es können auch leicht Herzmedikamente und andere Medikamente
sein, die unangemessene Nebenwirkungen
haben. Wenn wir neue Bewohner
bekommen, überprüfen wir ihre Medikamentenlisten
und beginnen dann in
Zusammenarbeit mit dem Arzt mit dem
schrittweisen Auslaufen der Medikamente.
Derzeit erhalten unsere Bewohner
durchschnittlich ein Präparat pro
Tag, wobei der Landesdurchschnitt
8 beträgt“, heißt es auf der Homepage
des Heims.
Das in Nordseeland gelegene Haus
hält zwölf Plätze für Menschen vor, die
alle unterschiedlich stark an Demenz erkrankt
sind. Auch das Zusammenleben
von Ehepaaren ist möglich. Eiby ist
nicht nur die Leiterin, sondern nimmt
auch selbst an der täglichen Pflege teil
und kennt alle Bewohnerinnen und Bewohner.
Das Haus soll ein Zuhause sein
und ist so konzipiert, dass die Gemeinschaft
im Mittelpunkt steht. Dagmarsminde
ist ein behagliches Privathaus,
mit kleinen Schlafzimmern und großem
Gemeinschaftsraum mit vielen verschiedenen
Sitzecken, Holzfußboden
und Schallisolierung. Gegessen wird
aus schönem, alten Porzellan, es gibt
gefaltete Servietten, frische Blumen,
Grünpflanzen, ein Klavier, Teppiche,
Ledersofas, alte Lampen, Bücherregale
und Kunst. Zum Haus gehören außerdem
ein Hund und eine Katze. Der Garten
ist ebenfalls Teil der Behandlung:
Die Bewohner helfen mit, die Eier von
den Hühnern einzusammeln, Erdbeeren
und Kräuter im Garten zu pflücken oder
die Ziegen und Kaninchen zu füttern.
Es war ein Radiointerview mit May
Bjerre Eiby, das die Regisseurin Louise
Detlefsen elektrisierte. „Die Botschaft
von May war für mich neu: Es ist tatsächlich
möglich, ein wunderbares
Leben mit Demenz zu führen“, so Detlefsen.
Ansonsten würden diese Erkrankten
bemitleidet und wenn sie in
Pflegeheime ziehen oft allein in ihren
Zimmern gelassen, was Demenzkranke
verängstigen könne. „Mehr als jeder andere
sind sie auf Ansprache und
menschliche Nähe angewiesen, um sich
in ihrer neuen Realität zurechtzufinden
und die plötzlichen Lücken in ihrer Persönlichkeit
zu füllen“, so Detlefsen weiter.
Sie fand hier auch Trost: „Ich fand
heraus, dass eine Krankheit, die ich
immer gefürchtet habe, vielleicht gar
nicht so tragisch ist. May sagte mir, im
Moment glücklich zu sein, im Hier und
Jetzt, bedeutet ein glückliches Leben,
denn ein Leben mit Demenz ist ein
Leben im Augenblick. Die Vergangenheit
verschwindet, also geht es nur
darum, jetzt präsent zu sein.“
Die Langzeitbegleitung mit und ohne
Kamera führte zu intensiven, sehr
nahen Eindrücken – von Einzug bis
Ende: Die Regisseurin erhält schließlich
auch die Möglichkeit, eine Bewohnerin
in ihren letzten Tagen zu begleiten, in
denen die Bewohnerin Essen und Trinken
einstellt und friedlich und liebevoll
begleitet einschläft. „Ich hatte immer
Angst vor dem Tod, aber das änderte
sich, als ich aus nächster Nähe erlebte,
wie ein Mensch dem natürlichen Prozess
folgt und somit einen friedlichen
Tod findet“, so Louise Detlefsen.
Auch visuell wurde ein ganz eigener
Stil entwickelt, um die Welt aus den
Augen des Demenzkranken sichtbar zu
machen. Da wird eine Tasse, losgelöst
von ihrer praktischen Funktion, plötzlich
zu einer Form, einem gemalten
Dekor mit einem Vogel, der auf einem
Ast sitzt, so die Beschreibung im Presseheft.
Was sieht die demenzkranke
Person? „Mit einer geringen Tiefenschärfe
verschwindet die Umgebung
und der Fokus konzentriert sich auf eine
Blumenknospe oder einen Krümel auf
dem Tisch, der hin und her gerollt
wird“, heißt es dort weiter.
Dänemark profitiert von ganz anderem Finanzierungssystem
Betrieben werde das Heim mit der
gleichen öffentlichen Förderung und
dem gleichen Personalbestand wie in
den anderen Pflegeheimen des Landes,
macht Produzent Jürgen Kleinig deutlich.
„Im internationalen Vergleich mit
unseren Nachbarn im Süden, Westen
und Norden steht die deutsche Altenpflege
mit am schlechtesten da“, meint
er. Dahinter stehe ein deutsches Pflichtversicherungssystem
mit einem hohen
Grad an Fragmentierung und vielen Akteuren,
die untereinander im Wettbewerb
stehen.
Aktuell (Stand 1.1.2021) gebe es 103
gesetzliche Kassen mit rund 73 Mio.
Mitgliedern und 42 private Kassen, listet
ein Systemvergleich auf. Die Leistungen
der Pflegeversicherung sind
gedeckelt, macht die Politikwissenschaftlerin
und Pflegeexpertin Dr. Cornelia
Heintze darin deutlich. Folge: Mit
Stand vom 1.1.2021 beliefen sich die
Eigenanteile im Bundesdurchschnitt auf
knapp 2.100 Euro. Tendenziell seien sie
dort, wo die Qualität und die Arbeitsbedingungen
des Pflegepersonals schlecht
seien, niedriger als dort, wo mehr Personal
eingesetzt wird und Tariflöhne gezahlt
werden.
Das dänische System ist demgegenüber
staatlich und steuerfinanziert.
„Jeder Einwohner, jede Einwohnerin
hat Anspruch auf gesundheitliche und
pflegerische Versorgung gemäß dem
persönlichen Bedarf. Pflegegrade existieren
nicht“, so Heintze. Der Sicherstellungsauftrag
liege bei den Kommunen
und Regionen. Für die Alten- resp.
Langzeitpflege setze Dänemark doppelt
so hohe öffentliche Finanzmittel ein wie
Deutschland. Und trotz Pflegevollfinanzierung
mit auch einer wesentlich besseren
Personalausstattung sei das
dänische Gesamtsystem (Gesundheit
und Pflege) nicht teurer als das deutsche.
Sind Pflegeheime á la Dagmarsminde
auch in Deutschland möglich?
„Grundsätzlich ja, dies dann aber als
Nischenangebote für eine finanzkräftige
Nachfrage und kaum als Bestandteil der
regulären Pflegeinfrastruktur. Die Kosten
wären zu hoch. Damit derartige Ansätze
in der Breite eine Chance erhalten,
müsste sich nicht nur das System der
Langzeitpflege, sondern das Gesundheitssystem
insgesamt grundsätzlich
ändern“, so Cornelia Heintze.
In Dagmarsminde kann jeder unabhängig
von eigenen Mitteln einziehen.
Theoretisch. Praktisch gibt es aber eine
lange Warteliste. Wer möchte nicht so
betreut und so in den Schlaf gleiten, wie
es auf der Homepage beschrieben wird.
„20-23 Uhr: Den Bewohnern wird ins
Bett geholfen. Wir haben Teppichboden
ausgelegt und das Zimmer mit gedämpfter
Abendbeleuchtung fertig gemacht
… Der Mitarbeiter setzt sich an
die Bettkante und plaudert noch ein
wenig, bevor wir uns Gute Nacht
sagen.“
— Anke Hinrichs, Originalveröffentlichung 5/2021