Gesellschaft

„Ein Hammerbegriff, damit kann man vieles erschlagen“

Warum Prof. Claas Hinrich Lammers einer Zunahme von Narzissmus widerspricht – und was er Therapeuten rät.

Claas-Hinrich Lammers

Hat einen verhaltenstherapeutisch orientierten Behandlungsansatz für narzisstische Persönlichkeitsstörungen entwickelt und darüber jetzt ein Buch veröffentlicht: Prof. Claas-Hinrich Lammers. Foto: Hinrichs

HAMBURG. Streit-Definition Narzissmus: In der Vergangenheit gab es z.B. viele Auseinandersetzungen bezüglich Diagnose und Konstrukt der narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPS), deren Prävalenzrate auf ein Prozent der Bevölkerung geschätzt wird. Sie gilt als besonders kulturabhängig und wird vor diesem Hintergrund im ICD-10 auch nicht als eigenständiges Störungsbild aufgeführt. Auch der nicht krankhafte Narzissmus als Persönlichkeitseigenschaft von Menschen mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein sowie gehörigen Portionen Eitelkeit und Kränkbarkeit bei geringen Empathiewerten kann in der Gesellschaft nicht gerade punkten – gelten Narzissten doch als tendenziell sozial unverträglich. Inzwischen wird der Begriff gar für eine Kritik der ganzen Gesellschaft genutzt. Von einer „narzisstischen Epidemie“ war zuletzt die Rede, von einem allgemeinen Anstieg narzisstischer Eigenschaften.
Einer, der dem konsequent und vehement widerspricht, ist der Hamburger Narzissmus-Experte Prof. Claas Hinrich Lammers. In seinem jüngsten Buch* legt der Ärztliche Direktor der Asklepios Klinik Nord Ochsenzoll nicht nur ein ausgesprochen praxisnahes verhaltenstherapeutisch orientiertes Konzept zur Behandlung von narzisstisch gestörten Patienten vor, er warnt darin auch einmal mehr vor einer leichtfertigen Verwendung von Narzissmus als „Schmähbegriff“ – was insbesondere in Kreisen der Psychiater und Psychotherapeuten beliebt sei. Bezüglich der unscharfen ausufernden Verwendung des Begriffs sieht Lammers eine historische Parallele zur Hysterie im 19. Jahrhundert.
„Narzisstisch ist ein Hammerbegriff, damit kann man vieles erschlagen“, so Lammers. Dabei brauche die Gesellschaft für bestimmte Aufgaben eine gehörige Portion Selbstbezogenheit, die Frage sei, inwieweit durch diese Eigenschaft persönliches oder fremdes Leiden entsteht. Wissenschaftliche Belege für eine Zunahme gibt es nicht viele. In einer Metaanalyse, die auf einen gewissen Anstieg zwischen 1979 und 2006 weist, betreffe dies vor allem weibliche Studentinnen, die sich heute karriereorientierter und selbstbewusster zeigten. Solche Errungenschaften der Emanzipation als Zunahme narzisstischer Eigenschaften zu werten, erscheine aber „kaum zulässig“. Claas Hinrich Lammers verweist auf der anderen Seite auf Untersuchungen wie die regelmäßigen Shell-Jugendstudien, welche keine Zunahme an narzisstischen Verhaltensweisen und sogar eine Zunahme so genannter prosozialer, unnarzisstischer Verhaltensweisen in der Gesellschaft belegen. So sei das ehrenamtliche Engagement von acht Prozent in den 50er Jahren auf ca. 25 Prozent in der Gegenwart angestiegen.
Ohnehin seien Normalität und Pathologie gar nicht klar zu trennen: „Wenn jemand mit narzisstischen Zügen erfolgreich ist, kann er ein gutes Leben haben. Ist er erfolglos, kann er Zeichen einer Störung entwickeln.“ Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung suchten auch nicht wegen einer Persönlichkeitsstörung, sondern wegen Vereinsamung oder Depression Hilfe. Sehr häufig komme es zu Suizidversuchen. Man sehe Narzissten mit Burnout in der Psychosomatik oder in der Suchtklinik. Oft werde das Problem nicht richtig erkannt. „Die Dunkelziffer an Klinikpatienten, die eigentlich eine Persönlichkeitsstörung haben, liegt bei 13 Prozent.“ Stationär sei diese Klientel nicht gut zu behandeln, aber für ambulante Psychotherapie sei sie auch nur schwer zu motivieren, insbesondere in jüngeren Jahren, so Lammers, der in der Klinik immer mehrere solcher Klienten ambulant therapeutisch behandelt. Leidensdruck und Motivation entstehe dann häufig durch Beziehungskrisen oder soziale Probleme.
Der größte Fehler bei gängiger psychotherapeutischer Behandlung? „Dass der Therapeut sie zu sehr mit ihren Größenideen konfrontiert“, so Lammers. Problematisch sei auch das Aufdrängen bestimmter Therapiestandards oder das Auftreten als „scheinbar perfekter Therapeut“. Ziel ist die Etablierung einer tragfähigen Beziehung, auf Basis derer Kränkungen bearbeitet und verändert werden können. Dabei gehe es immer wieder um Konflikte, um scheiternde Beziehungen, sowohl privat als auch beruflich. „In der Therapie müssen die Patienten soziale Verhaltensweisen neu lernen.“ Dass sie mit dem Sozialverhalten Probleme haben und der Hintergrund einer narzisstischen Störung wird mit der Rolle im Elternhaus erklärt. Hypothesen zufolge wurden sie entweder als „Prinz oder Prinzessin“ erzogen oder aber, alternativ, emotional vernachlässigt dergestalt, dass sie nur für besondere Leistungen Aufmerksamkeit erhielten. Folge: ein nie stabiles Selbstwertgefühl.
Und wie geht man privat mit Narzissten um? Was zum Beispiel tun, wenn der Chef schwer narzisstische Züge zeigt, unter denen man leidet? Darauf gibt Lammers eine klare Antwort: „Kündigen. Bei einem Chef hat man keine Chance, der wird sich nicht ändern, und ich kenne kaum Fälle, in denen ein Chef wegen der Art seiner Personalführung geschasst wurde.“ Im Klinikbereich allerdings, fügt er hinzu, habe sich das Führungsverhalten in jüngster Zeit deutlich verändert: „Kündigungen können sich Chefärzte nicht mehr leisten, sodass sie eher gezwungen sind, durch ihren Führungsstil die jungen Mitarbeiter zu motivieren.“

— Anke Hinrichs, Originalveröffentlichung 2016