Ethik

„Heil werden, ohne gesund werden zu müssen“

„Medizin ohne Maß?“: Prof. Giovanni Maio setzt einem„Diktat der Machbarkeit“ eine neue Medizinkultur der Besonnenheit entgegen – als Weg zu einem „guten Leben“

Prof. Giovanni Maio

Prof. Giovanni Maio, geboren 1964, studierte Medizin und Philosphie und war anschließend zunächst als Internist tätig. Heute ist er Professor für Medizinethik an der Universität Freiburg, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin und Direktor des Interdiszipliären Ethikzentrums. Foto: Oliver Lieber

Giovanni Maio ist Internist, Philosoph und Ethiker – und ein besonders wortmächtiger Kritiker der modernen Medizin und des dahinter stehenden Menschenbildes. „Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit“ lautet der Untertitel seines jüngsten Buches „Medizin ohne Maß“, das über die Disziplinen hinaus Wellen schlug. Ein Rundumschlag, dessen Themen von Reproduktionsmedizin, Präimplantationsdiagnostik und Enhancement bis Sterbehilfe reichen. „Nachdenkbuch“ eines Wissenschaftlers, der der Medizin den Verlust ihrer Seele attestiert und sich vehement gegen eine einseitige Fokussierung auf evidenzbasierte Medizin und auch Psychiatrie wendet. „Die heutige Abwertung all dessen, was sich nicht messen lässt, trifft daher die Psychiatrie als eine Beziehungsmedizin am allerheftigsten“, sagte er jüngst in einem Gespräch mit dem bisherigen DGPPN-Präsidenten Wolfgang Meier (siehe „Psyche im Focus“ 6, www.dgppn.de).
Schon 2011 trat er mit einem Beitrag im Psychotherapeutenjournal der Berufskammer eine Debatte los mit einem Plädoyer für die schlecht messbaren Aspekte, für die Kunst der Psychotherapie. In seinem aktuellen Buch schlägt er einen Bogen von der Grundfrage, ob wir das, was wir können, überhaupt wollen, bis zur Annahme dessen, was ist – um so der inneren Heilkraft des Menschen eine Chance zu geben. Alles in allem ein schlüssiges und überzeugendes Statement in schwieriger Zeit – das Konzept einer zutiefst humanen Grundhaltung als Antwort auf bedrohliche Fehlentwicklungen in Medizin und Gesellschaft.

HAMBURG. Das Buch sei ihm eine Herzensangelegenheit, die sich aus der Arbeit an einem medizinischen Lehrbuch für Studenten entwickelte, sagte Giovanni Maio bei der Vorstellung seines Buchs in Hamburg. Sein Ziel: Nachdenklichkeit erreichen, eine breite Öffentlichkeit ansprechen. Die Voraussetzungen dafür sind da, die 207 Seiten tragen allgemeinverständlich und sehr pointiert ein Welt- und Menschenbild zusammen, das weit über Systemkritik hinausgeht und als praktisch-gedankliche Anleitung zum guten Leben begriffen werden kann und soll. Genau dazu sei ethisches Denken eigentlich da.
Hilfe zum guten Leben – dieses liegt für Maio jenseits von Machbarkeit und Grenzenlosigkeit, jenseits der Maßlosigkeit mit der immanenten Gefahr wachsender Selbstentfremdung. Das gute Leben – für ihn liegt es im Annehmen und sich Anfreunden mit dem, was ist, was einem mitgegeben wurde, in was man hineingeboren wird. Und die Kunst des Lebens, so Maio im Rahmen der Hamburger Pressekonferenz zur Buchpräsentation, sei herauszufinden, wo es sinnvoll ist sich abzufinden und anzufreunden – und wo es gilt, etwas zu verändern. „Wenn wir alles könnten und alles wollten was wir könnten, dann wären wir niemand. Eine Identität entwickeln können wir nur im Angesicht dessen, was wir nicht können. Identität ergibt und formt sich gerade über die Grenze – die Grenze des Machbaren, aber auch die Grenze des Wünschbaren“, schreibt Maio in „Medizin ohne Maß“. Grenzen seien nicht als Beschränkung und Einengung zu sehen, sondern als die Voraussetzung für Fülle.

Reproduktionsmedizin

Mutter mit 64, Leihmütter, Samenspender, Eizellenspende und zuletzt Social Freezing – also das Einfrieren von Eizellen karrierebewusster Mütter, die ihre Schwangerschaft so auf Zeiten verschieben, wenn sie älter sind und es besser in die Lebensplanung passt. Ursprünglich mal für krebskranke Frauen gedacht, jüngst in die Diskussion geraten, weil Apple und Facebook ankündigten, Mitarbeiterinnen die Kosten für die eiskalte Methode zu erstatten.
Unmöglich scheint ein Unwort – von Beistand für ungewollte Kinderlosigkeit spricht dagegen kaum einer. Und die Folgen der Entwicklung gehen tiefer als die Verursacher denken können oder wollen. Maio nennt hier neben der so genannten „Herstellungslogik“ (Das bestellbare Kind als Produkt statt als Gabe) auch die „Logik der Entpersonalisierung“ – Spenderkinder beklagen, in beziehungsloser Kälte entstanden zu sein. Es geht um das mögliche Grundbedürfnis, von Eltern abzustammen, die eine Beziehung hatten. Es gehe bei einer Fremdsamenspende um das „mutwillige Bescheren eines Defizits“ (eines existenten Vaters) und bei der Eizellenspende um eine „dissoziierte Mutterschaft (eine genetische Mutter, eine Mutter, in deren Leib man heranreifte). Und es geht um die Multioptionalität, die hinter dem „Social freezing“ steht. Das möglichst lange offen halten der Entscheidung, wie frau leben will. Es geht um „absolute Kontrollierbarkeit“ statt um eine Haltung von Demut, mit der Kinder als Geschenk auf die Welt kommen. Und nicht zuletzt geht es auch darum, dass man lieber die körperliche Integrität einer Frau antaste anstatt die gesellschaftlichen Bedingun-
gen zu ändern, damit Frauen gut Kinder und Karriere verbinden können.

Enhancement

Unabhängig davon, inwieweit z.B. Psychopharmaka wirklich bei Gesunden wirken und mit welchen – unerforschten – Folgen, steht hinter einer Selbstoptimierung eine gesellschaftliche Bedrohung. „Je populärer Enhancement-Medikamente werden, desto mehr sinkt die Akzeptanz von Menschen, die sich in eine Gesellschaft, die auf Funktionieren ausgerichtet ist, weniger gut einfügen“, so Maio in „Medizin ohne Maß“. Denn Medikamente seien nicht nur ein Angebot, in ihnen stecke auch die soziale Erwartung, dass Menschen angepasst werden. Maio spricht von einem „Gelingensimperativ“, der die ausgrenzt, die aus körperlichen oder seelischen Gründen nicht mithalten können. Hinzu kommt die ständige Angst, falsch zu entscheiden und etwas zu verpassen. Die „Verzweiflung der Möglichkeit“ (Kierkegaard).
Der Mensch selbst verliert sich, sei er doch auf das Gefühl angewiesen, dass sein innerer Wert nicht in seiner Leistungsfähigkeit begründet ist, sondern in dem, so sein zu können wie er ist. Je weiter er sich davon entferne, desto mehr entfremde er sich von sich selbst. Das gute Leben, so Maio, liege woanders. Beschleunigung blende die Weite des Lebens und den Blick auf Wendungen und Überraschungen, Offenheit aus. Und wieder zitiert er Kirkegaard: „Das Große ist nicht, dies oder das zu sein, sondern man selbst zu sein.“ Und Maio schreibt: „Das Gefühl der Zufriedenheit mit der Welt kann nicht mit einer Pille hergestellt werden.“

Gesundheit als Pflicht?

„Gesund ist nicht, wer keine Beeinträchtigung hat, sondern wer einen kreativen Umgang mit seiner eigenen Begrenztheit und seiner grundsätzlichen Versehrbarkeit gefunden hat“, so der Autor. Und im Zusammenhang mit Eigenverantwortung führt Maio das Präventions-Paradox ins Feld: „Den Gedanken an gesundheitsförderliches Verhalten muss man sich erstmal leisten können.“ So habe, Studien zufolge, Adipositas mehr mit sozialen Verhältnissen und Milieu zu tun und nicht mit Willen. Eigenverantwortung gehe daher nur, wenn sie an Gemeinwohlorientierung gekoppelt sei. Und sie sei die Ernte, „die man einfahren kann, wenn man zuvor der ganzen Person Zuversicht, Selbstwertgefühl und innere Stärke mitgegeben hat“.

Krankheit als Schuld?

„Gesundheit und Krankheit“, so Maio weiter, „erscheinen uns immer weniger als Geschicke und Fügungen, sondern immer mehr als Resultat unserer eigenen Handlungen, als Erzeugnisse unseres eigenen Willens.“ Viele Patienten müssten aber in ihrer Not erstmal als kranke Personen anerkannt werden, die sich in ihrem Leid schwach fühlen dürfen.

Alter

Antiaging und dem Zwang zum Fitsein stellt Maio die Einsicht gegenüber, „dass das Nachlassen im Alter zu einem runden Leben dazugehört“. Und es gebe doch auch Vorteile: So bewahre z.B. gerade die fehlende Zukunft davor, sich von Wünschen und Sehnsüchten blenden zu lassen.
„Wer nichts mehr will, gewinnt – kompensatorisch – die Fähigkeit, viel zu sehen“, zitiert er den Philosophen Odo Marquard.

Aktive Sterbehilfe als ethische Resignation

Maio vertritt sehr klar Position gegen Sterbehilfe. Hinter letzterer stehe die Fiktion eines bis zuletzt aufrechten Lebens in totaler Unabhängigkeit in Verkennung der Tatsache, dass der Mensch von Anfang an ein angewiesenes Wesen sei. Viele Palliativmediziner machten die Erfahrung, dass der Wunsch zu sterben ein Durchgangsstadium angesichts einer schweren Krankheit ist. Dieses Durchgangsstadium könne überwunden werden. Maio fordert in dem Zusammenhang eine Kultur des Beistands und der Sorge. Das Sterben, führt er weiter aus, sei „eine Art Probe darauf, ob man es schafft, das selbst gelebte Leben als solches anzunehmen“. Er zitiert Viktor Frankl, nach dem der Mensch „eben nicht am Leiden an sich zerbreche, sondern am sinnlosen Leiden“.
Für Maio geht es darum, zum Sterben sozusagen heranzureifen und das Leben nicht abzubrechen, sondern abzurunden.

Medizin der Besonnenheit

Um nicht Gefangene des Machbaren zu werden, spricht sich der Autor für eine „Medizin der Besonnenheit“ aus. Was ist das? Platon beschreibe Besonnenheit als Harmonie des Ganzen und Gesundheit der Seele. Schopenhauer als Fähigkeit, vom Augenblick Distanz zu gewinnen und das Ganze des Lebens zu übersehen. Voraussetzung dafür seien innere Ruhe und ein Maßhalten mit den Gefühlen, z.B. von Angst und Besorgnis. Es gehe darum, eine innere Überlegenheit zu entwickeln, so Maio, die davor bewahrt, sich vom „Arsenal der Möglichkeiten“ blenden zu lassen und die es schafft, „Abstand zu gewinnen zu den Verführbarkeiten einer zunehmend marketinggeleiteten Medizin.“
Grundproblem sei, dass die moderne Medizin „fast immer mit Aktionismus reagiert“ und auf die Korrektur des kranken Körpers setzt. Dabei wird Kranksein als „Störfall“ gesehen, als Leitbild dient allein der gesunde Mensch. Dabei bestehe doch die größte Freiheit des Menschen „in der Wahl seiner inneren Einstellung zum äußerlich Vorgegebenen.“ Der Medizinethiker plädiert daher für ein „sich anfreunden mit dem was ist“. So gelinge es, zu einem Sinn vorzudringen. Es gehe darum, die neue Erfahrung des Krankseins in das Leben zu integrieren. Und darum, dass auch schwache angewiesene Menschen ein hoch erfülltes Leben haben können – was sich der Mensch durch das Fokussieren auf die Bekämpfung der Krankheit verwehre.

Die innere Heilkraft

Krankheit weist auf Transzendenz, auf das nicht fassbare, das außerhalb und unabhängig der menschlichen Wahrnehmung liegende. Sie löst eine Krise aus, durch deren Vergegenwärtigung eine Kraft ausströmen könne, die in der Medizin nicht vernachlässigt werden sollte, schließt Maio. Die meisten Patienten bräuchten dabei ein verstehendes Gegenüber, appelliert er, „jemanden, der ihnen hilft, ja zu sagen zu der Zeit, zu sich, zum Leben“. Dann könne auch in der Unheilbarkeit so etwas wie Sinn gefunden werden. „So kann jeder Mensch heil werden, ohne gesund werden zu müssen.“

— Anke Hinrichs, Originalveröffentlichung Februar 2015